GEHÖRT | Dan Gemeinhart: Die wirkliche Wahrheit

Ergreifend.

Zurzeit laufen mir lauter Bücher und Hörbücher zu, in denen Fast-Teenager-Jungs über sich hinauswachsen, zuletzt Bart in "Die Ballade der gebrochenen Nase" von Arne Svingen. Aber Mark aus "Die wirkliche Wahrheit" übertrifft sie alle. 

Darum geht es

Mark ist 12 und hat seit Sandkastentagen eine beste Freundin: Jessie.

Er hat einen besten Freund: seinen hingebungsvoll treuen Hund Beau.

Und dann hat er auch noch einen Traum: Er will den Mount Rainier besteigen, wie er es seinem Großvater am Sterbebett versprochen hat.

 

Und so büchst Mark von zu Hause aus und macht sich auf den Weg, zusammen mit Beau. Ohne Jessie.

Aber da ist noch etwas. Mark ist krank, richtig schwer krank. Aus seinem Traum wird sein letztes und einziges Ziel: Er will diesen Berg besteigen – und dort sterben. Mit etwas Geld, einem Notizbuch, seiner alten Analog-Kamera und Beau macht er sich auf den Weg. Dass der nicht einfach sein wird, ist ihm klar. Aber dass er schon an der ersten Zwischenstation im wahrsten Sinne des Wortes zu Boden gehen würde, damit hat er nicht gerechnet.

 

Jessie ist währenddessen zu Hause und sie ahnt, nein – sie weiß, wo Mark ist. Weil sie ihn so gut kennt wie niemand anderer und tief mit ihm verbunden ist, unabhängig von räumlicher Entfernung. Ihr Part ist, bei Marks Eltern zu sein. Und mit sich zu ringen, ob sie ihnen sagen soll, was sie weiß. Ob sie damit ihren besten Freund auf der ganzen Welt verraten, seinen Plan platzen lassen soll. Eine Zwickmühle. Denn egal, wie sie sich entscheidet – beides kann Mark das Wichtigste rauben: seinen letzten Willen und sein Leben. 

 

Wie es weitergeht und vor allem, wie alles endet, kann hier natürlich nicht einmal angedeutet werden. Beim Zuhören war ich ständig hin- und hergerissen von der abgrundtiefen Traurigkeit des sicheren Todes von Mark und einer kleinen Hoffnung, dass es vielleicht doch nicht ganz so tragisch enden wird. 

 

Das Hörbuch erzählt die Geschichte mit zwei Stimmen: Andreas Steinhöfel – ja, der Andreas Steinhöfel, der Autor – als Mark und Birte Schnöink als Jessie. Die Titel von Marks Kapiteln sind ein Countdown, der die Meilen von seinem Zuhause bis zum Ziel, dem Ort Paradise am Fuße des Mount Rainier, herunterzählt.  

Lese(t)räumchen meint

Tough stuff. Das Leben zu sehen durch die Augen eines schwerkranken Kindes, das seinen Tod vor Augen hat, das ist wirklich hart und herzzerreißend. Und doch versucht Mark, es nicht nur seinen Eltern, sondern auch dem Leser seiner Notizen so leicht wie möglich zu machen. Ohne Selbstmitleid, aber ab und zu mit großer Wut erzählt er von seiner Reise, der vielleicht letzten. Seine Entschlossenheit ist unglaublich, diese Art und Weise, wie er nicht aufgibt, sich vorankämpft, um sich seinen ultimativen Traum zu erfüllen. Und er kämpft mit aller Kraft, den ganzen Weg bis zum Berg und dann durch einen Schneesturm dort hinauf. Alle, die ihm unterwegs begegnen und ihm liebend gern helfen wollen, lässt er zurück; er will es alleine schaffen. 

 

Geschrieben hat das Buch Dan Gemeinhart. Laut Text auf der CD-Hülle ist dies sein erstes Buch. Er ist Grundschullehrer, Bibliothekar und Vater von drei Töchtern, wurde in Deutschland geboren und lebt heute mit seiner Familie in den USA.

 

Andreas Steinhöfel liest ja die meisten seiner eigenen Bücher für die Hörbücher ein. Und ab und zu auch Geschichten anderer Autoren. Warum? Weil er es kann. Und zwar unglaublich gut. Ich bin immer wieder hingerissen von der Art, wie er spricht, so voller Wärme und Empathie für die Figuren. Und – wo es passt – auch mit Witz und liebevoller Ironie. Dass Mark als Ich-Erzähler auftritt, macht seinen Part noch intensiver und berührender.

 

Die Schauspielerin Birte Schnöink als Jessie hat über weite Strecken den kleineren Teil des Textes; kommt erst zum Schluss länger zum Einsatz. Sie klingt sehr jung und irgendwie süß, aber im Kontrast zu Andreas Steinhöfel weniger intensiv und weniger emotional. Ihre Passagen sind inhaltlich zwar auch dramatisch, aber sie muss in dritter Person von Jessie erzählen, deswegen konnte mich persönlich diese Figur nicht ganz so fesseln, wie es ihr von ihrer Bedeutung für Mark als beste Freundin, einzige Vertraute und innig Seelenverwandte zustehen würde.  

Fazit

Ich habe diesem Hörbuch völlig gebannt gelauscht und wollte einerseits erfahren, wie es weitergeht. Und andererseits auch nicht, denn das Ende schien ja klar. Alles nur eine Frage von wie und wann, nicht ob. Ohne zu viel zu verraten: Das Ende ist – wie alles andere an der Geschichte – auf jeden Fall ergreifend. Ein Taschentuch in Reichweite kann beim ersten Hören nicht schaden.

 

Apropos: Manche Geschichten, bei denen es so spannend ist, wie sie ausgehen, sind beim zweiten Hören irgendwie schon uninteressant. Das ist hier definitiv nicht der Fall. Mich hat die Geschichte auch beim zweiten und dritten Hören gepackt. Und eigentlich ist es dann sogar angenehmer, zuzuhören, weil man nicht mehr so (an)gespannt ist.

 

Und: Wenn ich Filmproduzentin oder sonstwie in der Branche wäre, würde ich die Filmrechte an mich reißen (hat hoffentlich schon jemand getan), denn ich hatte die Geschichte so lebendig vor Augen, als würde ich einen Film anschauen. Und ich wüsste auch schon, wer in meinem Film die Hauptrolle spielen sollte: Juri Winkler, der Oskar aus den "Rico und Oskar"-Filmen. Er wäre der perfekte Mark, finde ich: zart und zäh zugleich.

 

Und noch was: Hätte ich nur das Hörbuch gehabt ohne jegliche Beschriftung - ich wäre beim ersten Hören ziemlich davon überzeugt gewesen, dass dies die Lesung eines Steinhöfel-Buchs ist. Von der Art des Erzählens, der Sprache, von Themen wie Kinder mit geschiedenen Eltern (das Mädchen im Bus), dem Hund Beau, der mich an Ricos Hund Porsche erinnert. Ein Versprechen am Sterbebett (Mark/sein Opa, Rico/Herr Fitzke). Es kommt sogar einmal der Ausdruck "tiefer in die Schatten" vor, was wie eine Hommage der Übersetzerin Annette von der Weppen an "Rico, Oskar und die Tieferschatten" klingt. Andererseits würde er mit Sicherheit nicht so viele tragende Elemente aus eigenen Geschichten für eine neue verwenden.

 

Und das Buch ist auch wirklich nicht von Andreas Steinhöfel. Er hätte einen anderen Schluss geschrieben, hat er mir mal in einem Interview gesagt. Aber wenn ich jetzt verraten würde, wie, wüsstet ihr ja, wie es wirklich endet. Also selber lauschen und sich dann - zumindest partiell - das Gegenteil vorstellen. Das wäre dann das Steinhöfel-Ende. 

 

"Die wirkliche Wahrheit" ist eine berührende, aber keine sentimentale Geschichte. Und das Hörbuch ist jede Minute Zeit wert, die man damit verbringt.


Steckbrief

Die wirkliche Wahrheit

Dan Gemeinhart

 

Ungekürzte Lesung von Andreas Steinhöfel und Birte Schnöink 

Verlag: Hörbuch Hamburg/Silberfisch 

Umfang: 4 CDs, 260 Minuten Laufzeit

Preis: 16,99 Euro 

Erscheinungsdatum: 2. Oktober 2015

Altersempfehlung: 12 bis 19 Jahre


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